Hinweis: Dieser Artikel ist eine Ergänzung zu dem Artikel: „Buchrezension: Zen-Training

Samadhi

Nach den bisher eher praktischen Anweisungen folgen nun Kapitel, die sich eher auf die theoretische Natur von Zen fokussieren. Angefangen bei dem, was Sekida selbst am ehesten als Ziel im Zen bezeichnen würde: Samadhi.

An dieser Stelle ist zunächst einmal zu differenzieren: Es gibt positives und absolutes Samadhi.

Positives Samadhi zeichnet sich durch eine Tätigkeit des Bewusstseins aus. Absolutes Samadhi geht dagegen mit dem Aussetzen des Bewusstseins einher. Beide Samadhis erfüllen unterschiedliche Zwecke: Durch das absolute Samadhi wird der Geist gebändigt, positives Samadhi befähigt einen dagegen, in der Alltagswelt weiterhin die „Freiheit des Geistes“ zu genießen.

Entsprechend müssen beide Samadhis erreicht und gepflegt werden. Eine präzisere Beschreibung der Samadhis hat Rinzai Zenji (Gründer der Rinzai-Zen-Schule, die Hauptschule neben der Soto-Zen-Schule) zusammengestellt und in vier Kategorien unterteilt:

1. Kategorie: Der Mensch ist bloß, die Umstände sind nicht bloß

In dieser Kategorie geht es darum, dass der Geist voll mit den äußeren Umständen beschäftigt ist und keine Wahrnehmung des Innenlebens erfolgt. Unabhängig von dem, was man gerade tut – man geht komplett in der Handlung bzw. in seinen Gedanken auf – positives Samadhi.

Wichtig ist an diese Stelle zu unterscheiden zwischen:

  • wirklichem Samadhi (mit Selbstbeherrschung verbunden)
  • falschem Samadhi (ohne Selbstbeherrschung)

Mit Selbstbeherrschung ist gemeint, dass der innere Mensch nicht aufgegeben wird, auch wenn er für den Moment vergessen scheint. In dieser Weise ist die 1. Kategorie zu verstehen:

Man ist komplett auf die äußeren Dinge ausgerichtet, der innere Mensch ist „lediglich untätig, aber nicht ausgelöscht.

2. Kategorie: Die Umstände sind bloß, der Mensch ist nicht bloß

In der zweiten Kategorie geht es um eine abgeschwächte Form des absoluten Samadhi. Wenn man sich auf sein Inneres konzentriert, bspw. über die Übung mit Mu, kommt man dahin, was Rinzai als den „Menschen“ bezeichnet. In diesem Zustand vergisst man alle äußeren Umstände und man kommt zum Ursprung aller Gefühle und Gedanken.

3. Kategorie: Sowohl der Mensch, als auch die Umstände sind bloß

Die dritte Kategorie fügt sich nahtlos an die vorangegangene an und stellt eine Weiterentwicklung in einem zentralen Punkt dar: Der „Reflektionstätigkeit des Bewusstseins“. Mit Reflektionstätigkeit ist gemeint, über das eigene Denken nachdenken zu können. Bspw.:

„Der ist aber ein Idiot! Moment mal… warum denke ich sowas?“

Diese Tätigkeit ist zentral für das Ausbilden eines Selbst-Bewusstseins. In der vorangegangenen Kategorie blitzt diese Reflektionstätigkeit im Samadhi immer mal wieder auf. In der dritten Kategorie dagegen ist die Reflektionstätigkeit komplett eingestellt. Das führt dann zu einem wirklich tiefen Samadhi, bzw.absoluten Samadhi:

„Je tiefer das Samadhi wird, desto weniger häufig tritt die Reflexionstätigkeit des Bewusstseins auf. Schließlich kommt die Zeit, wo überhaupt keine Reflexion mehr eintritt. Man kommt dann so weit, dass man nichts wahrnimmt, nichts fühlt, nichts hört, nichts sieht. Dieser Geisteszustand wird das „Nichts“ genannt. Aber das ist keine hohle Leere. Es ist eher der lauterste Zustand unseres Daseins.“

4. Kategorie: Weder der Mensch noch die Umstände sind bloß

In der letzten Kategorie werden die Erfahrungen aus der ersten und dritten Kategorie gebündelt – und die Grundlage für ein reifes Leben im Alltag geschaffen. In diesem Zustand ist das Bewusstsein im Alltag aktiv (1. Kategorie), gleichzeitig bleibt der Zustand des absoluten Samadhi (3. Kategorie) erhalten.

Diese Stufe erfordert einige Übung. Wenn man gerade die ersten großen Fortschritte erreicht hat und vielleicht auch schon die 3. Kategorie erlebt hat, wird man trotzdem seine Erfahrungen nicht direkt im Alltag anwenden können. Vielmehr wird man im Alltag allzu leicht wieder in Unachtsamkeit gedrängt und die erreichten Fortschritte schieben sich in den Hintergrund. Daher betont Sekida, dass diese Kategorie die wichtigste Kategorie überhaupt ist – und einen wirklich reifen Menschen auszeichnet.

 

Koans

Wenn man das absolute Samadhi (d.h. die dritte Kategorie) kennengelernt hat, gilt es im nächsten Schritt dieses auch über den Verstand zu ergründen. Dazu kommt man nicht umhin, auf Begriffe zurückzugreifen, die man nur in zweierlei Hinsicht handhaben kann:

  • man verknüpft die Begriffe in einer rein logischen Übung miteinander
  • man setzt jeden Begriff in Bezug zu seiner eigenen Erfahrung

Laut Sekida ist die zweite Methode nachhaltiger und zielführender – genau das soll über Koans erfolgen. Ein solches Koan lautet bspw.:

„Denke jetzt nicht an Gutes noch an Böses: Kennst du deine ursprüngliche Natur?“

Wie geht man mit einem solchen Koan um? Auch bei Koans ist die Atmung entscheidend:

„Sagen Sie [das Koan vor sich hin, richten Sie Ihre gesamte geistige Kraft darauf, in einem Ausatmen; wenden Sie die Bambus-Methode des Atmens an. „Den-ke jetzt nicht an Gu-tes noch an Bö-ses: Kennst du die-ne ur-sprüng-li-che Na-tur?“ Sprechen Sie es Silbe um Silbe, Wort um Wort, sagen Sie es mit Ihrer ganzen Aufmerksamkeit, verweilen Sie still bei jedem Wort. Begleiten Sie den Übergang zu jeder neuen Silbe mit einem kurzen Impuls Ihrer Atemmuskeln im Unterleib.“

Verfährt man in dieser Weise, geht der Satz oder Gedanke ganz in einem auf und das, was im Zen „Nen“ (Gedankenimpuls) genannt wird, entfaltet nach und nach seine ganze Wirkung. Auch in unserem üblichen Leben gibt es Situationen, die vergleichbar sind. Lesen wir einen Text sehr aufmerksam und mit Ehrfurcht, bauen wir eine Beziehung mit ihm auf – es stellt sich das ein, was Sprach-Samadhi genannt wird. In eben dieser Weise gilt es Zen-Koans zu rezitieren.

 

Nen-Tätigkeiten

Im vorangegangenen Kapitel wurde Nen als Gedankenimpuls übersetzt. Tatsächlich lässt sich Nen weiter spezifizieren, analog unserer Gedanken. Denn zunächst denken wir, dann reflektieren wir, was wir gedacht haben (könnte man auch als Metagedanke bezeichnen).

Die Natur des Nen ist, dass immer nur ein Nen beherrschend auf Bühne des Bewusstseins sein kann. Denken wir über einen Gedanken nach, war dieser zuvor schon beherrschend auf der Bühne. Zwar kann es einem gut trainierten Geist gelegentlich gelingen, einen unterbewussten Impuls rechtzeitig zu erkennen und zu entschärfen. Dennoch war auch hier zuerst der Impuls da, ehe die Wahrnehmung des Impulses einsetzte.

Im schlimmsten Fall jedoch entstehen (negative) Impulse, die man nicht reflektiert, die sich unerkannt im Bewusstsein niederlassen und dort dann zu einer Art „Gärungsprozess“ führen – und letztlich dem Geist schaden.

Erster und Zweiter Nen

Dem zuvor Beschriebenen gibt Sekida noch einmal spezifischere Namen:

  • Der nach außen gerichtete Gedanke wird „Erster Nen“ genannt
  • Der Reflektionsakt wird „Zweiter Nen“ genannt

Beispiel:

  • „Heute ist schönes Wetter“ –>  Erster Nen
  • „Ich habe gerade gedacht, dass heute schönes Wetter ist“ –>  Zweiter Nen

Beide Nens treten nahezu gleichzeitig auf und vermischen sich ständig untereinander. Das ist der Grund, dass es einem so vorkommen kann, dass man eine „innere Stimme“ besitzt: Man denkt zunächst etwas und während man es denkt kommt sofort ein weiterer Gedanke, der diesen Gedanken reflektiert und kommentiert.

Dritter Nen

Der zweite Nen weiß nichts von sich selbst – er reflektiert nur den vorangegangenen ersten Nen. Erst mit einem weiteren Akt der Reflexionstätigkeit wird der zweite Nen bewusst – der dritte Nen.

Beispiel:

„Ich weiß, dass ich gemerkt habe, dass ich gedacht hatte: Heute ist schönes Wetter.“

Das Spiel lässt sich unendlich fortsetzen – alle weiteren Nens, die folgen, werden dritte Nens genannt.

 

Zusammenspiel aller Nens

Alle Nens zusammen stellen das Selbst-Bewusstsein und Ego dar. Je nachdem, in welchem Nen man steckt: dort befindet sich gerade das Ego. Das Ziel des Zazen ist Kontrolle in alle Nens hineinzubekommen, d.h. letztlich das Aufhören der Nens zu erzielen. Wenn man ins absolute Samadhi eintritt, hört zunächst der dritte Nen mit der Tätigkeit auf, dann folgt der zweite und dann der erste Nen.

Abseits davon lassen sich viele Beispiele finden, anhand derer das Zusammenspiel aller Nens aufgezeigt werden kann:

Beispiel I: Sammlung

Wenn man einem Ton länger folgt, merkt man, dass der Ton mal lauter und mal leiser wird. Dies hängt damit zusammen, dass wir zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung hin- und herwechseln. Und das hängt wiederum damit zusammen, dass sich alle paar Sekunden eine Ermüdung der Aufmerksamkeit einstellt.

Im Hintergrund passiert folgendes: Wir nehmen den ersten und zweiten Nen wahr, der dritte Nen fasst alle vorausgehenden Wahrnehmungen zusammen und integriert alles in einen Strom des Tones.

Die Qualität vom dritten Nen ist abhängig von der Qualität des jeweiligen Bewusstseins und seiner augenblicklichen Verfassung. Ist das Bewusstsein ermüdet, wirkt sich das auf die Fähigkeit zur Sammlung aus.

„Sie können das leicht beim Lesen feststellen. Wenn Sie müde sind, behalten Sie fast nichts mehr, und selbst wenn Sie den Text ein paarmal nachlesen, erfassen Sie seinen Sinn nicht mehr klar. Am nächsten Morgen dagegen ist Ihr Auffassungsvermögen überraschend dynamisch, und Sie folgen mit erfrischender Klarheit Zeile um Zeile dem Verlauf der Gedanken.“

 

Beispiel II: Intuition

Auch bei der Intuition spielen vorangegangene Gedanken eine wesentliche Rolle. Denn häufig gehen Intuitionen eine Vielzahl an Gedanken vorneweg.

Beispiel:

  • Intuition: „Heute ist schönes Wetter.“
  • Vorangegangene Gedanken/Wahrnehmungen: der blaue Himmel, die strahlende Sonne, die Ansicht der Landschaft usw.

Der schlussfolgernde Gedanke oder die Intuition drängt sich laut Sekida im Moment des Erscheinens auf die Bühne des Bewusstseins und verdrängt alles vorher Dagewesene. Dadurch kann auch die Reflexionstätigkeit des Bewusstseins nicht einsetzen und die vorangegangenen Gedanken erfassen.

Ein weiteres Beispiel verdeutlicht Sekidas Erläuterungen:

„Im ziemlich ähnlichen Sinn sagt man oft vom schöpferischen Einfall eines Erfinders oder von der Lösung eines schwierigen Problems, die ein Mathematiker plötzlich findet, sie sei ihm jäh und intuitiv eingegeben worden. Aber auch in diesen Fällen müssen vorher zahlreiche vergeblich gedankliche Anläufe unternommen worden sein, bis endlich der Treffer gelang. Das Nachdenken mag bereits Stunden, Tage, Monate oder Jahre vor sich gegangen sein, aber sein unablässiges zähes Suchen hat sich im Unterbewusstsein in Form einer inneren Spannung abgespielt.“  

 

Störungen der Nens

Allzu häufig kommt es jedoch auch zu Störungen bei den Nen-Aktivitäten.

Psychotische und andere Erfahrungen

Dies ist bspw. bei psychotischen Erfahrungen oder Erfahrungen mit Drogen der Fall.

Sekida äußert bzgl. der ausufernden Wahrnehmungen, die sich bei den genannten Erfahrungen ergeben, folgende Vermutung: Der erste Nen nimmt uneingeschränkt Reize aus der Umwelt wahr, während der zweite und dritte Nen ausgeschaltet ist. Die nachgelagerten Nens sind jedoch wesentlich, um das Gesehene zu reflektieren und einen Sinn zu geben. Sekida schließt nicht aus, dass die genannten Erfahrungen zu erleuchtungsähnlichen Zuständen führen können. Er betont jedoch, dass es wesentliche Unterschiede zwischen einer Erfahrung gibt, die auf Störungen beruht und einer solchen, die durch jahrelanges Üben zustande kommt:

Bei der ersten herrschen Disharmonien im Zusammenspiel der Nens vor. Bei der zenbedingten Erleuchtung jedoch arbeiten alle drei Nens harmonisch miteinander.

Identitätsbildung und -störung

Der berühmte Ausspruch von Descartes „Ich denke, also bin ich.“ ist Sekida zufolge weithin anerkannt – und greift deutlich zu kurz. Denn: Der Gedanke selbst führt noch nicht zur Erkenntnis. Sondern erst der Gedanke, der den Gedanken erkennt. Der Ausspruch müsste korrekterweise also heißen:

„Ich erkenne mein Denken, deshalb weiß ich, dass ich bin.“

Doch auch das greift laut Sekida eindeutig zu kurz. Zwar erkennt der letzte Gedanke den vorherigen Gedanken – aber der letzte Gedanke muss wiederum auch erkannt werden – nur dann ergibt sich eine fortlaufende Bewusstseinstätigkeit.

„Anders gesagt, jede Nen-Tätigkeit ist ihrer selbst nicht bewusst; solange sie nicht von einer auf sie folgenden Reflexionstätigkeit wahrgenommen und aufgegriffen wird, weiß man von ihr überhaupt nichts. […] So haben wir keinen direkten Zugriff auf unseren eigenen Nen oder Geist.“

Dass wir trotz dieser letztlichen „Machtlosigkeit“ ein Identitätsgefühl haben, liegt an der Beschaffenheit der Nens. Sekida beschreibt, dass jede Nen-Tätigkeit von einer Stimmung begleitet wird: einer warmen, intimen Stimmung, die einem immer wieder die eigene Identität bestätigt. Bei einer Störung ist dieser Prozess gestört. Das Gefühl der warmen, intimen Stimmung kann nicht aufkommen – das Aufeinanderwirken der Nens ist gestört. Der dritte Nen kann die vorhergehenden Nens nicht mehr integrieren:

„Daher bringt es der Psychotiker oft nicht mehr fertig, seine Sinnesempfindungen, Wahrnehmungen und Stimmungen als ihm eigene zu identifizieren, und er fühlt sich von sich selbst entfremdet.“

 

Gestimmtheit

Dieses Kapitel ist eines meiner liebsten. Sekida beschreibt, wie seiner Ansicht nach eine vollkommene Gestimmtheit aussieht und stellt dagegen, wie viele Menschen gestimmt sind.

Vollkommene Gestimmtheit

Ausgangspunkt von Sekidas Überlegung ist, dass das Gehirn mit seiner geistigen Aktivität nicht alles des Daseins abdeckt. Vielmehr ist auch der Körper zentral – und in Verbindung der beiden „Komponenten“ mit psychosomatischen Prozessen ergibt sich die Gestimmtheit (letztlich wie man dem Leben und sich selbst gegenüber gestimmt ist).

Die Höchstform des Daseins oder die vollkommene Gestimmtheit sieht Sekida in einem durch Zen entwickelten Geist – genauer gesagt: in einem mit Kraft erfüllten Tanden (siehe hierzu: Teil I- Tanden)  

Gestimmtheit der Menschen

Im Vergleich zu dieser vollkommenen Gestimmtheit sind viele Menschen anderweitig gestimmt. Sekida beschreibt, dass sich gerade im Übergang vom Kind zum Erwachsenen grundlegende Änderungen im Bewusstsein ergeben. Während das Leben eines Kindes warm und weich sei, sei das von Erwachsenen kalt und hart. Nach und nach setze man sich selbst von anderen mehr ab und entwickle eine egozentrische, ich-betonte Sichtweise. Direkt damit verbunden ist die Sichtweise, die Dinge als „Zeug“ einzukategorisieren. Man stellt sich stets die Frage: „Was bringt mich in meinen Lebensnotwendigkeiten voran, was nicht?

Sekida betont, dass die Ausbildung eines Egos und eigenen Bewusstseins durchaus notwendig ist – denn irgendwo müsse man sich ja um sich selbst kümmern. Problematisch wird es jedoch, wenn man bei Dingen nicht aufhört, sondern auch anfängt Menschen einzukategorisieren. Je mehr man dies tut, desto mehr isoliert man sich selbst von der Welt. Man vergisst, dass andere da sind, die die gleichen Gefühle und das gleiche Wollen haben. Und je mehr man dies tut und alle als Zeug behandelt, desto mehr steht man anderen Menschen feindlich gegenüber und betrachtet die ganze Welt als feindlich.

Natürlich gibt es Abstufungen zwischendurch. Während die Einen eher in einer engen, bedrohlichen Welt leben, leben Andere in einer eher freundschaflichen. Letztlich hängt dies jeweils vom Ego des einzelnen ab – nichtsdestotrotz ist festzuhalten, dass viele Menschen in einer engen, bedrohlichen, feindlichen Welt zu leben scheinen. 

Umkehrung der Bewusstseinstätigkeit

Nach all dem Schwarzmalen kommt nun die Linderung: Die zuvor beschriebene eingeschränkte Bewusstseinstätigkeit ist umkehrbar.

Im Kindesalter schwankt die Gestimmtheit zwischen der Kindheit und der Erwachsenen hin und her. Nach und nach blockiert das Ego die Wechsel jedoch und Erwachsene verschanzen sich letztlich regelrecht in ihrem Ego. Zaghaft auftretende Kindheitsstimmungen werden selten wahrgenommen und durch die ausbleibenden Wechsel kommt es zu großen Schäden. Es stauen sich Sorgen und Probleme auf, die keinen Druck ablassen können. An diesem Punkt suchen sich viele ein Ventil: Sei es Alkohol, ein Golfkurs oder ähnliches. Manch andere kommen an einem Punkt, an dem sie nicht mehr weiterkommen: Sie gehen zum Psychiater, berichten von Ihren Symptomen und vernachlässigen die eigentliche Ursache – die verengte Gestimmtheit. Problematisch bei all dem ist, dass viele vergessen, dass es eine alte, kindliche Welt gab. Stattdessen wird angenommen, dass es außer der Erwachsenen Welt keine andere gibt. Aber gerade in diesen schlimmen Momenten offenbaren sich häufig Lösungen (Hinweis: das wird in Pema Chödröns Buch „Wenn alles zusammenbricht“ wunderbar beschrieben):

„Sehr oft machen wir die Beobachtung, dass wir angesichts einer Sackgasse im Leben plötzlich einen ganz neuen Einfall haben und sich uns neue Perspektiven eröffnen. Wenn wir nur lange genug warten können, kommt nach dem Regen schönes Wetter.“

Und gerade mit Zazen sorgt man dafür, sich nach und nach wieder die Stimmungswelt von Kindern zu erschließen. Je mehr man sich ans Zazen gewöhnt, desto häufiger fließen diese Stimmungen auch in den Alltag hinein. Doch Sekida betont auch: Nur wenn man fest entschlossen ist, wird man sich aus seiner „spirituellen Sackgasse“ befreien können. 

 

 

Bewusstsein als Problem

Negative Auswirkungen

Nicht nur die Gestimmtheit, sondern das Bewusstsein selbst führt zu Problemen. Als Beispiele dafür führt Sekida Neurosen, Schizophrenie, Mord, Wut und Verzweiflung an. Doch auch abseits dieser Extremformen leiden Menschen an allen Arten von geistigen Problemen. Das größte Problem an der Sache: die meisten Menschen merken es selbst nicht.

„Die Menschen sterben genauso an Krankheiten des Geistes, wie sie an physischen Krankheiten sterben. Die physische Krankheit wird von einem Monitor gemeldet, den wir den Geist nennen. Bei geistiger Krankheit ist der Monitor selbst krank. Er ist verworren und steuert letzten Endes hilflos in die völlige Vernichtung hinein.“

Geworfenheit

Das Dilemma des Bewusstseins und des Daseins bewegt alle Menschen und gerade Intellektuelle plagt laut Sekida das Gefühl, gegen ihren Willen einen Platz in dieser Welt zugewiesen bekommen zu haben. Heidegger prägte dazu den Begriff der Geworfenheit: Man wurde buchstäblich in das Leben ohne vorherige Einwilligung „hineingeworfen“ und hat keine Chance hinter diese Geworfenheit (praktisch hinter die Kulissen) zu blicken.

Doch wie bei der Gestimmtheit entwickeln sich auch diese Empfindungen erst im Erwachsenenalter:

„Ein Kind lebt noch mit voller Hingabe, weil es fraglos die positive Natur des Daseins annimmt.“

Erwachsene wollen dagegen dem eigenen Dasein auf den Grund gehen und solange ihnen das nicht gelingt, sind sie unzufrieden. Dabei ist dieses Unterfangen zumindest fraglich:

„Nach dem Sinn des Leben fragen heißt nach dem „Wozu?“ fragen und unterstellen, alles sei für einen Zweck und ein Ziel über es selbst hinaus da. Aber scheint nun die Sonne wirklich ihrem Wesen nach für einen bestimmten Zweck? Ist der Säugling auf die Welt gekommen, um auf ein Ziel zuzulaufen?“

Ego als zentraler Faktor

Kern des Problems ist das Ego. Dieses ist Herr über das Bewusstsein, wodurch das Bewusstsein wiederum nicht unabhängig agieren kann und alles aus der Perspektive des Egos beleuchtet wird. Das führt zu weiteren Problemen:

  1. Die Welt der Gegensätze zwischen einem selbst und anderen wird verstärkt
  2. Es entsteht das krampfhafte Verlangen nach einem beständigen, unvergänglichen Ego
  3. Man sucht verzweifelt nach dem Ursprung des Ego (während man im Ego bleibt)
  4. Es entsteht das Gefühl, das Leben sei unsicher, unheimlich oder sogar schrecklich

Und zu guter Letzt entsteht das zuvor erwähnte Gefühl der Geworfenheit.

Dasein im Zen

Das Dasein im Zen wird anders gesehen und systematisch in Jahren der Übung „voller Tränen und Schweiß“ untersucht. Ausgangspunkt ist das Verständnis, sich selbst als Verkörperung des Daseins zu sehen und das Ego infrage zu stellen. Statt das Ego zu „füttern“ indem man Gegensätze zwischen sich und anderen Menschen vertieft (siehe: Gestimmtheit), versucht man diese Gegensätze zum „Zusammenbruch“ zu führen.

Das Ziel ist, das Dasein unmittelbar zu erfahren. Dieses Ziel ist das absolute Samadhi. In diesem Zustand gibt es (wie in dem Abschnitt Samadhi beschrieben) keine Zeit, keinen Raum, keine Ursache und keine Gegensätze zwischen sich selbst und anderen. Wenn man diesen Bewusstseinszustand durchlaufen hat und wieder in die alltägliche Welt zurückkehrt, wird das Bewusstsein selbst klar und umfassend (positives Samadhi)

„Wir haben das Bewusstsein als das Auge des Daseins bezeichnet. Es wird nur deshalb getäuscht, weil es verschleiert ist. Im absoluten Samadhi offenbart sich das Dasein in seiner reinsten Form, im positiven Samadhi entfaltet es seine volle Blüte.“

Die Erfahrung des Daseins ist dabei nur der erste Schritt. Darauf basierend gilt es, seine Übung zu vertiefen und in jeder Situation dieses Dasein zu erfahren. (= 4. Kategorie im Abschnitt Samadhi)

 

Kensho

Die Erfahrung des Kensho wurde zu Beginn des Artikels kurz aufgegriffen. Sie lässt sich als Folge des absoluten Samadhi beschreiben. Das absolute Samadhi ist ein Zustand, in dem die Bewusstseinstätigkeit vollkommen aufhört. Im Kensho geht es darum, diesen Zustand des Bewusstseins auch im alltäglichen Leben zu erleben: Man befindet sich in der äußeren Welt im positiven Samadhi und erkennt in dieser Konstellation das reine Dasein. Irreführende Gedanken und die übliche fehlgeleitete Weise des Bewusstseins verschwinden und stattdessen tritt das reine Bewusstsein zu Tage.

Sekida beschreibt in seinem Buch die Kensho-Erfahrungen von verschiedenen Menschen, u.a. die Erfahrung eines Mädchens bei einem Sesshin (intensives Meditationsseminar im Zen):

„Im Augenblick des Kensho ergreift ein intuitiv aktiviertes Wahrnehmen die Initiative. […] Obwohl die Welt vor ihren Augen immer noch die gleiche alte Welt war, erschien sie ihr jetzt in einem völlig anderen Licht. Für eine kurze Weile stand sie in stummer Verwunderung und starrte auf den völlig neuen Anblick, der sich ihr offenbarte, und dann empfand sie ein gefühlsmäßiges Aufsprudeln, das ganz anders war als alles, was sie bisher jemals erfahren hatte – so, als werde sie von einer unbeschreiblich reinen Quelle her überflutet, die in ihrem Inneren aufgebrochen war. Es war ein endloser weiter Strom: der Ausbruch der großen Wonne, wovon immer wieder die Rede ist. […] Das Kensho beginnt mit der Läuterung der Sinneswahrnehmung, die bislang latent, fade oder verzerrt gewesen ist […] Bislang waren sie und die Welt füreinander Fremde gewesen. Ihr Bewusstsein, das von ihrer uralten, gewohnten Weise, die Dinge anzuschauen, geprägt gewesen war, hatte ihr immer gesagt, dass alle Dinge draußen eben die Dinge da draußen seien und dass sie sie selbst sei und dass es innerpsychisch keine Kommunikation zwischen diesen Dingen und ihr selbst gebe. Aber jetzt empfand sie jäh mit allem eine freie, unmittelbare Kommunion und harmonische Einheit.“

Im Weiteren warnt Sekida, das Kensho nicht auf die Erfahrung des Einsseins mit den Dingen zu reduzieren. Die Erfahrung des Einsseins können man durchaus auch ohne systematische Übung machen. Dies führt jedoch dazu, dass man die Erfahrung nicht richtig einordnen kann und die Erfahrung entsprechend kurzlebig, unverständlich und rätselhaft bleibt.

Auslöser des Kensho können die verschiedensten Dinge sein:

„Einzelne Worte und Wortverbindungen, Lichteffekte an Land oder auf dem Meer, Gerüche und Melodien – alles vermag etwas Derartiges auszulösen, wenn der Geist in der richtigen Verfassung dafür ist.“

Die Veränderung des Bewusstseins ist, wie zuvor bereits beschrieben, ein Prozess. Je häufiger man Erfahrungen macht, die die Grenzen des eigenen Bewusstseins überschreiten, desto mehr gewöhnt sich das Bewusstsein daran und weitet Schritt für Schritt seinen Horizont aus.

 

Stufenweg des Zen

Mit dem vorhergehenden Kapitel könnte man das Thema Zen-Einführung prinzipiell abschließen. Das Rüstzeug ist vollumfänglich vorhanden: die Zen-Übung an sich, die einzelnen Stufen des Samadhi und eine Beschreibung des Kensho. Doch Sekida geht noch weiter und beschreibt im letzten Kapitel des Buches in einzelnen Stufen den Weg zum wichtigsten Ziel: zum Samadhi.

1. Übung in Atem und Geist

Am Anfang all dessen steht Sekida zufolge das Ziel, seinen Atem und seinen Geist unter Kontrolle zu bekommen. Dafür ist es vor allem zentral, richtig zu sitzen. In dieser Phase macht man vermeintlich schnell Fortschritte und ist leicht zu beeindrucken. Man ist jedoch in der Regel auch sehr sorgfältig in seiner Übung – und das gilt es unbedingt beizubehalten. Denn es besteht die Gefahr, dass man sich an seinen Errungenschaften labt und nur noch an weiteren Errungenschaften interessiert ist – und das steht der eigentlich Übung im Weg.

2. Fortschritte

Auf der nächsten Stufe hat man bereits Fortschritte gemacht und erkennt seinen normalen Geisteszustand als ruhelos an. Im Zazen kann man diesen Geist gezielt zur Ruhe bringen. Dennoch ist man gefühlt noch sehr weit vom Samadhi oder Kensho entfernt.

3. Erste Samadhi Erfahrugnen

Nach und nach stellen sich Erfahrungen im Samadhi ein. Diese Samadhis sind noch instabil und wenig ausgeprägt. Es kann jedoch genauso gut sehr lange Zeit nichts passieren, ehe dann irgendwann explosionsartig Samadhi-Erfahrungen auftreten.

4. hellwacher Geist

Es folgt die Erfahrung, in der der Geist hellwach ist und man den Bezug für Raum, Zeit und Kausalwirkungen verliert.

„Sie und die äußeren Gegenstände in der Welt sind jetzt vereint. Es stimmt zwar, dass sie außerhalb von Ihnen liegen, aber Sie und die Gegenstände draußen durchdringen sich jetzt gegenseitig.“

5. Ruhe in Körper und Geist

In Körper und Geist ist Ruhe eingekehrt. Doch obwohl man das Samadhi einmal erlangt hat, ist man noch nicht am Ziel angelangt. Es ist wichtig, diese Erfahrung wieder und immer wieder zu wiederholen.

6. Anleitung zum Satori

Auf dieser Stufe kann man versuchen, gezielt ins Satori einzutreten (= die Erleuchtung zu erlangen). Dazu verweilt man in der reglosen Haltung des Zazen und reduziert die Reize für Muskeln und Haut auf ein Minimum. Im weiteren Verlauf stellt sich Nicht-Empfinden ein und Stille und ein Gefühl von Frieden erfassen den gesamten Körper.

So oder so: Nach langem Üben kommt man nun immer schneller ins Samadhi und ist reifer geworden.

7. Shikantaza

Schließlich findet man zum Shikantaza, einem Zustand der von vollkommener Selbstbeherrschung geprägt ist. Auch ohne konkret auf Atmung, Haltung und die weiteren Übungsbestandteile des Zen zu achten kann man ins absolute Samadhi eintreten. Man ist auch im Alltag stets im Zustand des positiven Samadhi.

8. Spuren des Bewusstseins

In vorhergehenden Samadhis gab es teilweise noch Spuren von Bewusstseinstätigkeiten. Auf dieser Stufe jedoch fällt die Bewusstseinsweise komplett aus.

„Die Welt wird stockfinster, denn sowohl das, was reflektiert, als auch das, was reflektiert wird, sind nicht mehr da.“

9. gereinigter Zustand

Nachdem auf der achten Stufe das Bewusstsein von allen Spuren der fehlerhaften Bewusstseinstätigkeiten befreit worden ist, setzt auf dieser Stufe nun die Bewusstseinstätigkeit mit dem Geist in einem „gereinigten“ Zustand wieder ein – man befindet sich permanent im positiven Samadhi, vereinigt mit dem Zustand des absoluten Samadhi: Kensho.

10. Keine Gegensätzlichkeiten

In der Welt gibt es nichts Gegensätzliches mehr. Der gewöhnliche Bewusstseinszustand ist vollkommen verschwunden.

Hinweis zu –  Buchrezension: Zen-Training:
Dieser Artikel ist Teil der Artikelserie „Buchrezension: Zen-Training“. In dieser Serie wird das Buch zum einen kurz vorgestellt und bewertet und zum anderen inhaltlich umfassend aufbereitet.

Übersichtsseite zur Artikelserie:

Buchrezension: Zen-Training

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